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FREMDSEIN
Ich nehme euch als fremd wahr und ihr nehmt mich als fremd wahr. Das ist uns ein komisches Gefühl. Um dieses Gefühl loszuwerden, machen wir immer wieder mit einer Begrüssung und Vorstellung vertraut. So laufen unsere Gespräche gelassen und locker. Mit dieser Vertrautheit erreichen wir Sicherheit und fühlen uns wohl.
Da dies auch den Despoten bewusst ist, benutzen sie beispielsweise Exil als eine Strafe. Egal, ob es freiwilliges Exil oder Zwangsexil ist. Die natürliche Vertrautheit des Opfers von Unterdrückung wird von Despoten abgeschnitten, die Vertrautheit mit allem, Vertrautheit mit Familie, Arbeit, Natur oder Alltag. Deswegen kann man in Exil sagen, ich bin ungerecht bestraft, bestraft von Despoten, bestraft mit Fremdwerden.
Fremdsein fängt im Heimatland an, sogar in der Familie oder im Freundeskreis. Zuerst verlassen sie das Opfer, bevor Opfer sie verlasse. Alleinheit, Isolation oder Verlassenheit sind die ersten Zeichen vom Fremdsein. Man sieht sich gezwungen, wegzugehen. Man denkt naiv, dass Weggehen nutzen kann. Aber nein!
Fremdsein ist unheilbar. Wenn man fremd ist, bleibt man immer fremd. Einmal fremd, immer fremd. Weggehen bringt genau aus diesem Grund nichts. Man bleibt in seiner Heimat fremd und auch im Ausland fremd. Man versucht, sich zu integrieren und sogar neue Identität aufzubauen. Aber ohne Erfolg. Sein Gesicht, seine Hauptfarbe, sein Akzent stellen stets ein Problem dar. Die anderen bemerken es und sagen, «sie sprechen aber gut Deutsch, woher kommen sie», denn wir dürfen nicht einheimisch sein. Höchstens ein guter Fremd.
Fremdsein ist leider erblich. Die Kinder dürfen oder können dieses verfluchte Erbe nicht ausschlagen. Sie müssen damit leben. Manche Kinder verstecken zwar sich, lehnen die Vergangenheit oder die Vorfahren ab, aber Fremdsein lässt sich nicht ausschalten😊Man bemerkt es.
Das schlimmste ist, dass man sich selbst fremd wird. Das Leben verwandelt sich plötzlich von einem Traum in einen Albtraum. Es ist fast unmöglich, mit dieser Änderung Schritt zu halten. Man muss den vertrauten Alltag ablegen. In diesem Albtraum hat man völlig andere Bedürfnisse, Bedingungen, Erwartungen, Anliegen und Ziele. Man wünscht sich dann keine Ferien am Strand, sondern nicht im Gefängnis zu sein oder einfach Freiheit; keine Beförderung auf der Arbeit, kein Auto, kein Luxus, sondern nur Ruhe. Man fragt sich; wo bin ich, was ist aus mir geworden. Im Spiegel sieht man nicht sich selbst, sondern eine andere Person.
Fremdsein ist ein Produkt der Diskriminierung oder sozialen Ausgrenzung. Es ist ein Mord ohne Blutvergiessen oder ein sozialer Tod oder jemanden lebendig zu begraben. Das alte Ich, das seine Mutter besucht und einen schwarzen Tee neben einem leckeren Kuchen geniesst, ist tot. Nun gibt es ein neues Ich, das nicht einmal seine Mutter besuchen und nicht ihre Hände und Wangen küssen darf. Das alte ich, der Jurist, die für die Justiz tätig war, ist tot. Nun gibt es ein neues Ich, der seine Heimat wie ein Verbrecher verlassen musste. Wer bin ich?
Ist die Situation wirklich so schlimm? Yunus Emre, ein anatolischer Dichter und Mystiker, bietet uns ein zauberndes Gegenmittel an. Lasst uns von ihm hören:
„Komm, wir wollen uns kennenlernen
Uns das Leben erleichtern
Lasst uns lieben und geliebt werden
Diese Welt bleibt doch keinem“
Wir benötigen ein neues Kennenlernen, ohne Vorurteile, ohne Stereotype. Das schaffen wir.
Auch das folgende Zitat von Martin Buber ist für mich, für uns wegweisend:
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Deswegen sind wir hier.